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Preisträgerin 2021: Christine Mirakyan

Einsendung Nr. 50
Christine Mirakyan aus Armenien

Mein Alltagsheld

Es war spät am Abend. Nach einem anstrengenden Tag legte ich mich zur Ruhe, aber ich konnte nicht einschlafen. Ein Gefühl von Unruhe und Unsicherheit erfüllte mein Herz. Plötzlich klingelte das Telefon. „Um Himmels willen, um diese Zeit ruft doch niemand an, der eine gute Nachricht hat“, dachte ich und griff zum Hörer. Es war meine Großmutter. Sie teilte mit, dass mein Großvater in einem „sehr ernsten“ Zustand sei. Meine Großmutter rief einen Krankenwagen. Meine Familie und ich eilten zu ihr. Ich sah, wie mein Großvater bereits seinen Lebensgeist aufzugeben begann. Die Welt um mich herum verlor in meinen Augen ihren Glanz und ihre Schönheit. Verzweiflung und Hilflosigkeit hüllten mich sofort ein und brachten mich zum Weinen. Es war, als ob mich eine Stimme aus dieser Dunkelheit herausrisse. „Ich bin hier. Vertrau mir. Dein Großvater wird wieder zu Kräften kommen.“ Es war der Arzt. Ich ging auf ihn zu und sprach ihn mit zitternder Stimme an: „Obwohl es heutzutage sehr schwierig ist, jemandem zu vertrauen und von jemandem Hilfe zu erwarten, vertraue ich Ihnen. Bitte helfen Sie meinem Großvater. Ich hoffe, Sie können meiner Hoffnung Zuversicht schenken.“

Mein Großvater wurde ins Krankenhaus gebracht. Nach einer langen Untersuchung diagnostizierten die Ärzte bei ihm Corona. Die Ärzte verbrachten Tag und Nacht bei meinem Großvater. Die Ärzte haben nicht nur selbst ein großes Wissen, sondern sie sind auch versehen mit einem menschlichen und emotionalen Gewissen. Es kennt keine Grenzen, weder nationale, religiöse, rassische, soziale noch irgendwelche anderen. Solche Träger menschlichen Gewissens gab es in der Vergangenheit. Es gibt sie heute. Und es wird sie auch morgen geben. Mein Großvater war in den fürsorglichen Händen der Ärzte.

Die Behandlung verlief langsam. Aber die Ärzte waren sehr sorgfältig und ließen meinen kranken Großvater keine Minute allein. Schließlich kam der ersehnte Tag, an dem mein Großvater und ich wieder zu Hause saßen, unseren Tee genossen und uns – auch mit einem Augenzwinkern – an die schweren Tage der Vergangenheit erinnerten. „Opa, weißt Du, dass Du mein Held bist? Niemand außer Dir konnte diese unheilvolle Krankheit überwinden.“ – „Meine Liebe, die Helden sind diejenigen, die unseren Schmerz zusammen mit uns, unseren Patienten, erleben, sie vermitteln Liebe und Glauben auch im hoffnungslosesten Zustand. Hast Du Dich schon mal gefragt, warum ich dies oder das will, warum ich eine gute Arbeit haben will, warum ich berühmt sein will, warum ich glücklich und geliebt sein will. Darauf gibt es nur eine Antwort. Wir tun alles für die Liebe. Und diese Liebe geht von uns aus. Sie bestimmt unsere Existenz. Sie gibt uns die Motivation und den Wunsch, anderen zu dienen. Sie gibt uns unseren Glauben und schließlich auch die Möglichkeit, die Welt in der Fülle ihrer Farben zu sehen. Es gibt verschiedene Arten von Liebe im Leben, aber jede Liebe ist wie ein Baum, der tiefe Wurzeln in unserer Seele schlägt. Liebe kann sogar auf Ruinen und hartem Felsen gedeihen. Sie ist die einzige Kraft, die in der Lage ist, das Hochmütige zu bezwingen, alles zu erfüllen und letztendlich sogar zu heilen.“ – „Großvater, ich möchte, dass wir wenn Du wieder ganz geheilt bist den Arzt besuchen, um ihm unsere Dankbarkeit auszudrücken, denn wir müssen unseren Alltagshelden immer dankbar sein.“ „Aber ja“, sagte mein Großvater, ohne zu zögern, „wir werden wir ihn auf alle Fälle besuchen.“

Ein paar Tage darauf beschlossen wir, den Arzt zu besuchen. Aber wir konnten ihn leider nicht antreffen. An diesem Tag hatte der Arzt eine andere Mission zu erfüllen. Er war an einem anderen Ort – auf einem tatsächlichen „Schlachtfeld“; im Krieg. Unser Land kämpfte an zwei Fronten. Corona wütete im Inneren des Landes, und der Feind hatte unser Land entlang der Grenzen angegriffen. Es war Krieg. Unser Arzt war an die Front geschickt worden, um das Leben der verletzten und Blut überströmten Soldaten zu retten. Ich war sehr besorgt. Die Kämpfe waren heftig. Wir hatten viele Opfer zu beklagen. Ich habe alles daran gesetzt, eine Nachricht oder ein Lebenszeichen von dem Arzt zu bekommen. Schließlich gelang es mir, seine Telefonnummer zu erhalten. Nach mehreren Anrufversuchen an mehreren Tagen habe ich ihn endlich erreicht. „Hallo, Herr Doktor. Ich bin die Enkelin von einem Ihrer Patienten. Ich kann nicht anders, als Sie anzurufen, um Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre Hingabe und Ihr selbstloses Tun zum Ausdruck zu bringen. Ich bin mehr denn je von Stolz erfüllt darüber, dass wir Ärzte und Helden wie Sie haben.“ – „Sie brauchen sich nicht zu bedanken․ Das ist doch meine Arbeit. Ich versuche immer, meinem hippokratischen Eid treu zu bleiben. Und ich bin froh, dass Ihr Großvater gesund und bei Ihnen ist.“

Wir konnten lange Zeit nicht reden. Es gab viele Verwundete auf dem Schlachtfeld. Hilfe wurde dringend benötigt. Wir verabschiedeten uns voneinander und hofften auf ein Wiedersehen im Frieden. Ein paar Tage nach dem Telefonat stöberte ich – wie täglich – im Internet. Plötzlich wurde alles dunkel vor meinen Augen. Es war, als ob ein Stück aus meiner Seele gerissen worden wäre. Es war ein Stück meiner Hoffnung und Zuversicht, unsere Soldaten sicher und gesund wiederzusehen. Die Nachricht war aber ein Bild. Das Bild meines Alltagshelden – das Bild des Arztes. Es war für meine Augen kaum noch zu erkennen. „Gefallen. Der Tod eines Helden․․․“ Alles verschwamm vor meinen Augen, als ob das Leben für einen Moment stehen geblieben wäre.

Ich dachte, ich könnte noch einmal mit ihm sprechen․ „Du bist gestorben. Alles ist vorbei. Wie können wir uns, die Lebenden, mit Deinem Verlust versöhnen? Es gibt sehr viele Opfer. Es ist schwer, zu leben.“ – „Denk nicht so, denn der Tod ist nicht das Ende von allem, sondern der Anfang, der Beginn eines neuen Lebens und der Ewigkeit. Wir werden ewig leben, denn viele von euch haben uns geliebt, und Liebe ist Ewigkeit und Quelle alles Guten. Indem ihr euch an uns erinnert, werdet ihr gute Taten vollbringen.“ Als ob er mir ins Ohr flüsterte. „Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie durch die Heilung der Körper der Menschen die Seelen der Menschen geheilt haben. Durch Ihr Handeln haben Sie die Menschen gelehrt, bedingungslos zu lieben, freundlich zu sein und zu verzeihen. Sie haben gelehrt, dass Liebe in uns ist. Die Liebe ist wahrhaftig gegeben. Um wie ein Held zu leben, müssen wir Liebe in unseren Herzen und in unserer Seele haben. Du hast Liebe in Deinem Herzen und in Deiner Seele, mein Alltagsheld.“

Prof. Dr. Justus Fetscher, Juryvorsitz und -sprecher schreibt:

Mit großer Dringlichkeit verknüpft die Ich-Erzählerin der Geschichte den Alarm, den die Nachricht von der Corona-Erkrankung ihres Großvaters in ihr auslöst, mit der gleichzeitigen Bedrohung ihres Landes im Krieg. Was diese beiden Sorgen verbindet, ist die Figur eines Arztes, der erst entscheidend hilft, den schon resignierenden Krankenhauspatienten zu heilen und nach Hause zurückzukehren hilft, und wenige Tage später zu den Waffen gerufen wird. Kaum hat ihm die Enkelin ihren Dank für seine ärztliche Fürsorge ausgesprochen, erfährt sie, dass er gefallen ist. Für sie ist er nun ein Held, weil er, bevor er starb, aus Liebe zu den Lebenden Leben gerettet hat. Mit Pathos und Reflexion überträgt die Geschichte den Sinn für Familie und das eigene gefährdete Land auf einen emphatischen Dank für die universelle, menschliche Fähigkeit, aus Gewissenhaftigkeit und Zuwendung Leid zu überwinden, zu verzeihen und damit im Gedächtnis zu bleiben.

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